Sonntag, 10. Juni 2018

Ohne Titel (von Victoria Winkler)

Eine Brise, nicht mehr als das. Eine sanfte, lauwarme Brise, die über deine Haut streicht und die feinen Härchen an deinen Unterarmen tanzen lässt und dich kitzelt. Jene Art von Brise, die dich dazu aufruft, mit jedem Zug die Flügel deiner Lungen noch voller, noch tiefer zu füllen, und dir dann auf einmal den Atem raubt, wenn sie plötzlich an zehnfacher Stärke gewinnt. Dann springt dein Herz in deiner Brust und du solltest husten, panisch nach Luft schnappen, doch tust es nicht, bist nicht schnell genug. Denn ehe du dich versiehst, ist sie wieder da; ist wie gezähmter Sauerstoff, auf einem Silberteller für dich serviert.

Du schaust dich um mit hochrotem Gesicht, blickst nach vorne und hältst dich fest und atmest ein. Dann siehst du die Zahlen, neongrün und vorwärtsgerichtet und du weißt, dass das nicht alles ist, was sie können. In Wahrheit ist das nur alles, was sie können dürfen, und dir ist klar, dass ihr volles Potential, auch heute, an einem Bilderbuchtag, nicht ausgelebt wird. Du sehnst dich nach Freiheit für sie und für dich. Für dich gibt es aber nur das ewige Rein und Raus, das Bangen und die darauffolgende Erleichterung und die Enge und die ach so ferne Weite. Du drehst das Handgelenk. Nicht weit, das kannst du nicht und darfst du nicht. Du drehst es nicht so weit, wie du es gerne drehtest, wenn du könntest und dich die Nummern nicht davon abhielten. Nicht so, wie du es tätest, wenn du länger die Luft anhalten und tiefer den Wind einatmen und lauter schreien könntest als leise.


(von Victoria Winkler, 6B, AHS Zirkusgasse, Wien)