Gastbeitrag 2018

Der hintere Teil der Mitte

von Josephine Frey


Gegenwind: Wind

Du ignorierst meine Nachrichten, aber es ist ja auch Fastenzeit und du hast gesagt, dass du dieses Jahr auf Fleisch verzichten möchtest.
Ich stecke das Handy wieder weg, es regnet in meine Stadtmitte, in die Kiesel zwischen den Pflastersteinen, die Montagsdemonstranten schleichen an mir vorbei, ich vergrabe die Hände in der Wetterjacke.
Frühling ist kein Neuanfang, Frühling sind die Schlammspritzer und die vermoderten Herbstblätter, Frühling sind dieses Jahr die ersten Wochen, in denen du mich nicht mehr willst und jetzt halte ich meine eigene Zeit in beiden Händen wie ein Werbeprospekt, das niemand mit nach Hause nehmen wollte.
Von der Stadtmitte aus kenne ich genau vier Heimwege zu dir.  Ich kann mir keine Straße mehr vorstellen, die nicht irgendwann an deinem Haus vorbeiführt, also versuche ich die Demonstranten wieder einzuholen und reihe mich im hinteren Teil ihrer Mitte ein.
Ich will dir erzählen, wo ich gerade bin, nur damit du mir vorwerfen kannst, dass ich immer nur jemandem hinterherlaufen möchte.
In den letzten vier Tagen habe ich dir zwölfmal auf die Mailbox gesprochen, wie froh ich bin, dass du nicht abhebst.
Das letzte Mal, als wir telefoniert haben, hast du mir vom Regen erzählt. Und wie oft es regnet in den letzten Wochen, wie sehr es regnet, das musstest du mir sagen, obwohl wir noch in derselben Stadt leben. Die offensichtlichen Dinge musst du immer aussprechen.
Wir sprechen nicht darüber, dass du dich jeden Tag aufs Neue gegen uns entscheidest.

Gegenwind: Wind, der entgegengesetzt zu der Richtung weht

Ich weiß, wieso dir als Kind alle Milchzähne auf einmal ausgefallen sind, ich weiß, mit was ich deine ganze Gewalt entschuldigen kann.
Als du das erste Mal fremdgegangen bist habe ich dir nur gesagt, dass ich dich nicht mehr am Gang erkenne. Als du das letzte Mal fremdgegangen bist, habe ich dir gesagt, dass es doch langsam anstrengend wird, dich mit anderen Frauen zu sehen, die es schaffen so auszusehen, als hätte sich in den letzten Jahren gar nichts in ihnen angesammelt, als könnten sie immer leer und lieb bleiben, als könnte man nur mir meinen Zeugenstand ansehen.
Wenn du nicht da bist, lege ich mich ständig mit unserer Liebe an.
Wenn du nicht da bist, filtere ich all unsere Erinnerungen.
Wenn Herzen wirklich für irgendwas brennen würden, würdest du nur zweimal dran ziehen und sie dann wieder ausdrücken.
Du hast mir nichts vorenthalten, aber die Liebe ist blind, die Liebe hat einen Schwerbehindertenausweis, die Liebe darf immer vorne sitzen.
Du wurdest immer unzuverlässiger, aber was blieb, ist deine Untreue, was heißt, dass ich mich irgendwann nur noch auf deine Untreue verlassen konnte, bis die Untreue und ich die einzigen waren, die noch bei dir blieben. Ich habe eine Solidarität mit deiner Sucht entwickelt und jetzt frage ich oft nach ihr, als wäre sie eine Verwandte, für die es seit unserer Trennung leider keinen Grund mehr gibt, sie zu treffen.

Gegenwind: Wind, der entgegengesetzt zu der Richtung weht, in die sich jemand bewegt

Unsere Erinnerungen gehe ich jetzt wie Suchbilder durch:
1.    Je beharrlicher du etwas verschwiegen hast, desto konkreter fing ich an, unsere Reisepläne auszumalen: Finde den Fehler.
2.    Wenn wir mittags meine Freunde in ihrer neuen Wohnung besuchten, redete ich mir nachts ein, dass meine Arme auf die Matratze zu drücken vielleicht deine Art ist, um meine Hand anzuhalten: Finde den Fehler.
3.    Ich sagte, wir müssen unbedingt reden und du hast meinen Bauch seitdem nicht mehr angefasst: Finde den Fehler.

Wir haben uns am Valentinstag getrennt, nachdem du mir ein Stück deines Schneidezahns in die Hand gedrückt hast und meintest: Ich habe dich sowieso immer nur dort gespürt, wo ich sonst nichts mehr gespürt habe.
Dein Zahn begleitet mich in die Klinik, dein Zahn ist bei mir auf der Rückbank im Taxi, dein Zahn liegt zwischen der kleinsten Größe Windeln.

Die Montagsdemonstranten werden langsamer, sie haben ohnehin nicht mehr viel gemacht, beinahe habe ich vergessen, dass sie gegen irgendwas protestieren. Die Leute verabschieden sich und sagen, ich soll auf mich aufpassen. Gut auf mich aufzupassen, war lange Zeit die Aufgabe von jemand anderem.



Josephine Frey verwendet Instagram als Notizbuch (@josephineschreibt), wo sie beständig versucht, „Herz“ nicht auf „Schmerz“ zu reimen. Verliebt sich trotzdem ca. fünf Mal am Tag.