Der hintere Teil der
Mitte
von Josephine Frey
Gegenwind: Wind
Du ignorierst meine Nachrichten, aber
es ist ja auch Fastenzeit und du hast gesagt, dass du dieses Jahr auf Fleisch
verzichten möchtest.
Ich stecke das Handy wieder weg, es
regnet in meine Stadtmitte, in die Kiesel zwischen den Pflastersteinen, die
Montagsdemonstranten schleichen an mir vorbei, ich vergrabe die Hände in der
Wetterjacke.
Frühling ist kein Neuanfang, Frühling
sind die Schlammspritzer und die vermoderten Herbstblätter, Frühling sind
dieses Jahr die ersten Wochen, in denen du mich nicht mehr willst und jetzt
halte ich meine eigene Zeit in beiden Händen wie ein Werbeprospekt, das niemand
mit nach Hause nehmen wollte.
Von der Stadtmitte aus kenne ich genau
vier Heimwege zu dir. Ich kann mir keine
Straße mehr vorstellen, die nicht irgendwann an deinem Haus vorbeiführt, also
versuche ich die Demonstranten wieder einzuholen und reihe mich im hinteren
Teil ihrer Mitte ein.
Ich will dir erzählen, wo ich gerade
bin, nur damit du mir vorwerfen kannst, dass ich immer nur jemandem
hinterherlaufen möchte.
In den letzten vier Tagen habe ich dir
zwölfmal auf die Mailbox gesprochen, wie froh ich bin, dass du nicht abhebst.
Das letzte Mal, als wir telefoniert
haben, hast du mir vom Regen erzählt. Und wie oft es regnet in den letzten
Wochen, wie sehr es regnet, das musstest du mir sagen, obwohl wir noch in
derselben Stadt leben. Die offensichtlichen Dinge musst du immer aussprechen.
Wir sprechen nicht darüber, dass du
dich jeden Tag aufs Neue gegen uns entscheidest.
Gegenwind: Wind, der entgegengesetzt
zu der Richtung weht
Ich weiß, wieso dir als Kind alle
Milchzähne auf einmal ausgefallen sind, ich weiß, mit was ich deine ganze
Gewalt entschuldigen kann.
Als du das erste Mal fremdgegangen
bist habe ich dir nur gesagt, dass ich dich nicht mehr am Gang erkenne. Als du
das letzte Mal fremdgegangen bist, habe ich dir gesagt, dass es doch langsam
anstrengend wird, dich mit anderen Frauen zu sehen, die es schaffen so
auszusehen, als hätte sich in den letzten Jahren gar nichts in ihnen
angesammelt, als könnten sie immer leer und lieb bleiben, als könnte man nur
mir meinen Zeugenstand ansehen.
Wenn du nicht da bist, lege ich mich
ständig mit unserer Liebe an.
Wenn du nicht da bist, filtere ich all
unsere Erinnerungen.
Wenn Herzen wirklich für irgendwas
brennen würden, würdest du nur zweimal dran ziehen und sie dann wieder ausdrücken.
Du hast mir nichts vorenthalten, aber
die Liebe ist blind, die Liebe hat einen Schwerbehindertenausweis, die Liebe
darf immer vorne sitzen.
Du wurdest immer unzuverlässiger, aber
was blieb, ist deine Untreue, was heißt, dass ich mich irgendwann nur noch auf
deine Untreue verlassen konnte, bis die Untreue und ich die einzigen waren, die
noch bei dir blieben. Ich habe eine Solidarität mit deiner Sucht entwickelt und
jetzt frage ich oft nach ihr, als wäre sie eine Verwandte, für die es seit
unserer Trennung leider keinen Grund mehr gibt, sie zu treffen.
Gegenwind: Wind, der entgegengesetzt
zu der Richtung weht, in die sich jemand bewegt
Unsere Erinnerungen gehe ich jetzt wie
Suchbilder durch:
1.
Je
beharrlicher du etwas verschwiegen hast, desto konkreter fing ich an, unsere
Reisepläne auszumalen: Finde den Fehler.
2.
Wenn
wir mittags meine Freunde in ihrer neuen Wohnung besuchten, redete ich mir
nachts ein, dass meine Arme auf die Matratze zu drücken vielleicht deine Art
ist, um meine Hand anzuhalten: Finde den Fehler.
3.
Ich
sagte, wir müssen unbedingt reden und du hast meinen Bauch seitdem nicht mehr
angefasst: Finde den Fehler.
Wir haben uns am Valentinstag
getrennt, nachdem du mir ein Stück deines Schneidezahns in die Hand gedrückt
hast und meintest: Ich habe dich sowieso immer nur dort gespürt, wo ich
sonst nichts mehr gespürt habe.
Dein Zahn begleitet mich in die
Klinik, dein Zahn ist bei mir auf der Rückbank im Taxi, dein Zahn liegt
zwischen der kleinsten Größe Windeln.
Die Montagsdemonstranten werden
langsamer, sie haben ohnehin nicht mehr viel gemacht, beinahe habe ich
vergessen, dass sie gegen irgendwas protestieren. Die Leute verabschieden sich
und sagen, ich soll auf mich aufpassen. Gut auf mich aufzupassen, war lange
Zeit die Aufgabe von jemand anderem.
Josephine Frey verwendet Instagram als Notizbuch (@josephineschreibt), wo sie beständig versucht, „Herz“ nicht auf „Schmerz“ zu reimen. Verliebt sich trotzdem ca. fünf Mal am Tag.